Gewaltvideos von Jugendlichen verstoßen gegen Medienethik

Die Senate 1 und 2 des Presserats beschäftigten sich mit zwei Beiträgen auf „oe24.at“, in denen brutale Gewaltvideos von Jugendlichen veröffentlicht wurden. Nach Ansicht der Senate verstoßen die Beiträge gegen die Punkte 5 (Persönlichkeitsschutz) und 6 (Intimsphäre) des Ehrenkodex für die österreichische Presse.

* „SCHOCK-VIDEO: BRUTALO-MÄDCHEN (13) TRETEN AUF OPFER EIN“,_ _ERSCHIENEN AM 18.01.2023 AUF „OE24.AT“:

In dem Beitrag wird über einen Vorfall am Bahnsteig von Rastatt (Baden-Württemberg) berichtet, bei dem zwei 13-jährige Mädchen sechsmal auf eine 14-Jährige eingetreten haben. Das Opfer sei dabei fast zu Tode geprügelt worden und schwer verletzt ins Krankenhaus gekommen. Die Angreiferinnen seien nicht strafmündig, aber bereits amtsbekannt. Die anderen Passanten auf dem Bahnsteig haben nur zugeschaut und die brutale Aktion mit ihrem Handy gefilmt.

Dem Beitrag war ein Video beigefügt, das mit dem Handy aufgenommen wurde und den brutalen Vorfall dokumentiert. Die Gesichter der Täterinnen und des Opfers wurden verpixelt, zu Beginn des Videos gibt es einen Warnhinweis über den „verstörenden Inhalt“.

Eine Leserin wandte sich an den Presserat und kritisierte die Veröffentlichung des Videos als medienethisch unzulässig. Die Medieninhaberin nahm nicht am Verfahren teil.

Der Senat 1 merkte zunächst an, dass eine Diskussion über die brutale Gewalt von Jugendlichen im öffentlichen Raum und Videos darüber für die Allgemeinheit relevant sind, dabei darf jedoch nicht der Persönlichkeitsschutz von Gewaltopfern missachtet werden. Die vorliegende Veröffentlichung verletzt die Persönlichkeitssphäre der 14-Jährigen eklatant: Im Video wird das Opfer gezeigt, wie es von den Täterinnen brutal niedergeschlagen und getreten wird, außerdem sind seine verzweifelten Schreie zu hören; die durch das Video vermittelte Grausamkeit ist verstörend und erschütternd.

Der Warnhinweis zu Beginn des Videos kann einen Eingriff in die Menschenwürde nach Ansicht des Senats nicht rechtfertigen; die Intimsphäre von Jugendlichen genießt speziell bei Gewalttaten erhöhten Schutz (vgl. Punkt 6.3 des Ehrenkodex). Zudem ist die Veröffentlichung des vorliegenden Videos dazu geeignet, das Leid der nahen Angehörigen der 14-Jährigen zu vergrößern. Dabei ist es auch unerheblich, dass die Gesichter der abgebildeten Personen über weite Strecken des Videos verpixelt wurden, weil das Opfer für seine nahen Bekannten bereits aufgrund des drastischen Vorfalls jedenfalls identifizierbar ist.

Schließlich sollten Medien gerade bei Bildmaterial, in dem brutale Gewalt zu sehen ist, zurückhaltend sein und mit Blick auf ihre Leserinnen und Leser verantwortungsvoll umgehen. Der Senat weist darauf hin, dass Onlinebeiträge auch Kindern und Jugendlichen zugänglich sind; der Schutz dieser Kinder und Jugendlichen sollte für die Medienverantwortlichen oberste Priorität haben.

* _ _„‘ALS ICH DAS VIDEO GESEHEN HABE, BIN ICH ZUSAMMENGEBROCHEN‘“, ERSCHIENEN AM 22.03.2023 AUF „OE24.AT“:

In diesem Beitrag wird über ein weiteres „Schock-Video“ berichtet, bei dem eine 13-Jährige von mehreren Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren in der Stadt Heide (Deutschland) stundenlang gefoltert worden sei. Das Mädchen werde beschimpft, geschlagen und getreten, die Täterinnen würden immer wieder schreien: „Mach die Augen zu“ und ihr dann wieder ins Gesicht schlagen. Anschließend heißt es, dass die Mutter des Opfers nun gegenüber der BILD über das Martyrium ihrer Tochter gesprochen habe: „Als ich das Video sah, bin ich zusammengebrochen. Alle hatten Spaß, meine Tochter zu quälen. Das sind Sadisten.“ Veronika W. fordere eine Herabsetzung der Strafmündigkeit, der Polizei zufolge sei lediglich eine der Haupttäterinnen über 14.

Dem Beitrag war ein Video beigefügt, das mit dem Handy aufgenommen wurde und zeigt, wie das 13-jährige Opfer von den anderen Mädchen geschlagen und gedemütigt wird. Die Gesichter sämtlicher Beteiligter wurden auch in diesem Video verpixelt.

Mehrere Leserinnen und Leser kritisierten die Veröffentlichung des Videos als bedenklich, zumal die darin gezeigte Gewalt auch zu Nachahmungstaten anregen könnte. Hier nahm die Medieninhaberin am Verfahren teil: Ihr Rechtsanwalt führte aus, dass die im Video abgebildeten Personen verpixelt und keinesfalls erkennbar seien. Der gezeigte Vorfall sei von überwiegendem öffentlichem Interesse, auch weil das Bildmaterial in einer Vielzahl von Medien gebracht worden sei; dem Vorfall sei eine breite Debatte über die Strafunmündigkeit von Personen unter 14 Jahren vorangegangen. Außerdem habe die Mutter des gequälten Opfers gegenüber einem deutschen Medium geäußert, dass das Video nicht den gesamten Vorfall abbilde.

Der Senat 2 bestätigt zunächst die Standpunkte des Senats 1 zum ersten Gewaltvideo in der zuvor geschilderten Entscheidung. Darüber hinaus merkt der Senat 2 an, dass es grundsätzlich keine Rolle spielt, ob das brutale Video auch von anderen Medien veröffentlicht wurde: Eine Redaktion muss eigenständig darüber entscheiden, ob das ihr vorliegende Bildmaterial medienethisch bedenklich ist. Andernfalls könnte jede Verfehlung, die ein anderes Medium begeht, ohne Konsequenzen weiterverbreitet werden.

Im Übrigen geht aus dem Artikel nach Meinung des Senats nicht eindeutig hervor, dass die Mutter und die 13-Jährige in die Veröffentlichung des Videos eingewilligt haben (Punkt 5.4 des Ehrenkodex). Der Senat teilt nicht die Ansicht des Rechtsanwalts, dass das Interview der Mutter mit einem deutschen Medium bereits als konkludente Zustimmung zur Verbreitung des Videos angesehen werden könne. Schließlich stimmt der Senat mit den Leserinnen und Lesern darin überein, dass die Veröffentlichung des Gewaltvideos womöglich zu Nachahmungstaten anregen könnte. 

Im Ergebnis können die Senate 1 und 2 an den Veröffentlichungen kein legitimes Informationsinteresse erkennen (Punkt 10.1 des Ehrenkodex). Nach Auffassung der Senate dienten beide Gewaltvideos in erster Linie der Befriedigung des Voyeurismus und der Sensationsinteressen gewisser Leserinnen und Leser (Punkt 10.3 des Ehrenkodex). Das brutale Videomaterial wurde wohl vor allem deshalb verwendet, damit sich die Beiträge im Internet stärker verbreiten; das Medium wurde in beiden Fällen seiner Filterfunktion nicht gerecht. 

SELBSTÄNDIGE VERFAHREN AUFGRUND VON MITTEILUNGEN MEHRERER LESERINNEN UND LESER

_Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig._

_In den vorliegenden Fällen führten die Senate 1 und 2 des Presserats aufgrund von Mitteilungen mehrerer Leserinnen und Leser Verfahren durch (selbständige Verfahren aufgrund von Mitteilungen). In diesen Verfahren äußern die Senate ihre Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht. Die Medieninhaberin von „oe24.at“ hat von der Möglichkeit, am Verfahren teilzunehmen, in einem der beiden Fälle Gebrauch gemacht._

_Die Medieninhaberin von „oe24.at“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt._

Tessa Prager, Sprecherin des Senats 1, Tel.: 01-236 99 84-11
Andreas Koller, Sprecher des Senats 2, Tel.: 01-531 53-830

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