TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel vom 7. August 2020 von Christian Jentsch – „Libanon liegt voller Leben im Sterben.“
Innsbruck (OTS) – Zwischen Illusion und bösem Erwachen, zwischen kultureller und religiöser Vielfalt und tiefem Misstrauen, zwischen Himmel und Hölle droht dem Libanon der Kollaps. Doch das Land im Würgegriff seiner Nachbarn ist schon öfter von den Toten auferstanden.
In der Bar Torino wird Falco gespielt und das Leben gefeiert. Der wirtschaftliche Untergang, die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, der dunkle Schatten der syrischen Tragödie, der auf dem Libanon liegt, der drohende Krieg Israels mit der schiitischen Hisbollah im Süden des Landes – all das bleibt außen vor. Zumindest für den Moment. Die Bar Torino liegt nahe dem Zentrum Beiruts, im christlichen Osten der Metropole, im Ausgehviertel Gemmayze, wo sich Bar an Bar reiht. Dort wo einst im Libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) mit seinen knapp 100.000 Toten die Front zwischen den christlichen und muslimischen Milizen verlief, tobt das Leben, trotz Krise, trotz Untergangsstimmung. Szenen aus Beirut im Frühjahr dieses Jahres knapp vor dem Corona-Lockdown.
Die verheerende Explosion im Hafen von Beirut, bei der mindestens 160 Menschen getötet und Tausende verletzt sowie ganze Stadtteile in Schutt und Asche gelegt wurden, hat nun auch das Leben in Gemmayze unweit des Hafens ausgelöscht. Ein Leben, das allen Unbillen trotzte. Im Oktober des Vorjahres platzte im Libanon die Schuldenblase. Die Wirtschaft befindet sich seither im freien Fall, die Preise explodieren, Lebensmittel und Medikamente werden knapp. Es droht eine Hungerkrise in einem Land, in dem viele einen europäischen Lebensstil pflegten. Zehntausende Menschen protestierten Ende des Vorjahres gegen eine korrupte Regierung. Doch trotz Regierungswechsel lässt sich das komplizierte Geflecht der Machtaufteilung zwischen Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen nicht auf den Kopf stellen. Jeder Politiker bedient seine Klientel, in einem Land, wo die verschiedenen Religionen auf engstem Raum zusammenleben. Andererseits sind die Libanesen Überlebenskünstler, selbst der Bürgerkrieg in Syrien riss das Land zunächst nicht in den Abgrund. Und das obwohl bis zu zwei Millionen Syrer in den Libanon mit seinen sechs Millionen Einwohnern flüchteten. Dazu kommt, dass Hunderttausende staatenlose Palästinenser in elenden Flüchtlingslagern leben. Und auch von außen wird am kleinen Land gezerrt. Israel und die mit dem Iran verwobene Schiitenmiliz Hisbollah, die auch in der Regierung in Beirut sitzt, stehen vor einem erneuten Krieg. Der Iran rüstet die Hisbollah auf, Israel will sie zerschlagen. Bereits 2006 wurde ein blutiger Krieg ausgefochten. Die Saudis versuchen die sunnitischen Libanesen zu lenken. Frankreich ist eng mit dem christlichen Libanon verbunden und auch die Großmächte haben ihre Interessen. Nun liegt der Libanon im Sterben. Obwohl er das pralle Leben in all seiner Vielfalt repräsentiert.
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