TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Mittwoch, 2. September 2020, von Michael Sprenger: „Alles unter Kontrolle“

Innsbruck (OTS) – Bundeskanzler Kurz und Gesundheitsminister Anschober üben sich als Ankündigungspolitiker und genießen in der Bevölkerung die größte Zustimmung. Auch deshalb knirscht es zwischen beiden. Man lebt sich auseinander.

Rudolf Anschober ist keine Gefahr für Sebastian Kurz. Trotzdem ärgert diesen, wenn er neben sich in der Beliebtheitsskala Anschober ertragen muss. Ein grüner Gesundheitsminister? Der Kanzler als Kontrollfreak ist gefordert.
Auch wenn nicht alles, was hinkt, ein Vergleich ist – die Kluft zwischen Schein und Sein hat die heimische Politik stets mitgestaltet. Kanzler Alfred Gusenbauer etwa wusste bei sich, dass ihm Werner Faymann intellektuell nie das Wasser reichen können wird. Doch er musste den Sturz ertragen, weil es bei den Gesetzmäßigkeiten der boulevardgesteuerten Öffentlichkeit nicht auf das Wasser ankommt. ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner und Kanzler Christian Kern durchschauten zwar früh die Absichten von Sebastian Kurz, aber sie hatten keine Ahnung, wie es ihnen gelingen könnte, die Sehkraft der Bevölkerung zu schärfen. Kurz verfolgte einen Plan, Kern und Mitterlehner hatten vielleicht einen, setzten ihn aber nie um. Außer jenem des eigenen Abgangs.
Faymann war kein strahlender Kanzler, aber er konnte sich – nahezu mühelos – jahrelang im Kanzleramt halten. Er war die personifizierte Antwort auf die Schüssel-Jahre und die Folgen von Schwarz-Blau I. Faymann umarmte die Sozialpartner und die ÖVP – Farblosigkeit machte sich breit. Kurz hingegen wurde als Licht inszeniert. Türkis sollte der neue Farbton sein. Im Kanzleramt ist Kurz unumstritten. Dafür sorgt nicht nur die Opposition. Aus seiner Partei wächst keine Gefahr, darauf hat er bei der Auswahl seiner Mitstreiter geachtet. Ideologiebefreit und ausgestattet mit dem Charme des netten Populisten schlüpft Kurz immer wieder in neue Rollen, die er perfekt zu spielen vermag. Nein, Kurz braucht keine Angst zu haben. Doch er hat ein Problem: Er kann mit Kritik schwer umgehen. Und dem Star der Konservativen ist es unerträglich, Gunst zu teilen. So werden Querschüsse gegen Anschober gezielt abgefeuert. Unfähigkeit ist da noch ein harmloses Attribut. Anschober duckte sich lange weg, nun will er dagegenhalten. Er wehrt sich, übt die Gegenrede. Beide versuchen sich als besserer Ankündigungspolitiker. Der Herbst kann kommen. Doch Anschober versucht gar nicht, den 34-Jährigen zu kopieren, er sieht sich als Gegenentwurf. Kurz macht keine Fehler, und wenn er sie macht, gibt er anderen die Schuld. Anschober macht Fehler. Immer wieder. Er versucht mit seiner Fehlerkultur zu punkten. Kurz und Anschober – zwei, die nicht miteinander können und wollen, aber müssen.

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