Berichte über Staatsanwältin Nittel Ethikverstoß

Wien (OTS) – Nach Meinung des Senats 1 verstoßen die Artikel „Streit um die Justiz: Wie die SPÖ ihr Personal unterbringen wollte“, erschienen am 08.02.2020 auf kurier.at“, sowie „Justiz-Streit: Neuer Wirbel um SPÖ-Wortprotokoll“, erschienen am 07.02.2020 auf „oe24.at“, gegen den Ehrenkodex für die österreichische Presse. Beanstandet wurden die beiden Artikel vom Bundesministerium für Justiz.

In den Artikeln wird über ein „SPÖ-Treffen“ berichtet, das im Jahr 1997 in einer Wiener Rechtsanwaltskanzlei stattgefunden habe. Bei diesem Treffen sei geplant worden, junge Parteimitglieder der SPÖ zu ermutigen, in den Richterdienst einzutreten. Hierzu werden in beiden Artikeln jeweils Passagen aus einem Aktenvermerk eines Rechtsanwalts zu dem Treffen veröffentlicht.

In der ursprünglichen Version des Artikels auf „kurier.at“ wurden die im Aktenvermerk aufgelisteten Personen genannt. Zudem wurde angemerkt, dass es brisant wäre, wenn tatsächlich die jetzige Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien – wie im Aktenvermerk angegeben – auch bei besagtem Treffen dabei gewesen wäre. Nachdem das Justizministerium das Medium kontaktierte, wurde der Artikel abgeändert. In einer zusätzlichen Passage hieß es dann, dass die Betroffene im Jahr 2011 eine Gegendarstellung erwirkt und behauptet habe, sie wäre nicht bei diesem Treffen dabei gewesen. Zu dieser Gegendarstellung wurde unterhalb des Artikels verlinkt.

Im Artikel auf „oe24.at“ wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass u.a. die nunmehrige Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien, Dr. Marie Luise Nittel, bei dem Treffen mit dabei gewesen sein solle.
Die Betroffene dementiere dies gegenüber dem Medium jedoch.

Das Justizministerium wandte sich bereits im Februar 2020 an den Presserat. Das Verfahren wurde jedoch bis zum Herbst 2020 unterbrochen, da die Angelegenheit auch gerichtsanhängig war.

– Zum Artikel auf „kurier.at“

Zunächst merkt der Senat an, dass die Informationen in der ursprünglichen Version des Artikels allein auf dem Aktenvermerk eines Rechtsanwalts beruhten, der für das Treffen der SPÖ-nahen Personen die Räumlichkeiten seiner Kanzlei zur Verfügung stellte.

Der Senat betont, dass das Medium bereits im Jahr 2011 darüber berichtete, dass Dr. Nittel in einem Protokoll zu dem Treffen im Jahr 1997 als Teilnehmerin aufscheine. Daraufhin veröffentlichte das Medium am 27.12.2011 eine Gegendarstellung von Dr. Nittel, in der sie u.a. festhielt, dass sie niemals an einem „Arbeitskreis Justiz“ oder einem Treffen in der besagten Rechtsanwaltskanzlei teilgenommen habe.

Nach Auffassung des Senats hätte die bereits veröffentlichte Gegendarstellung den Autor jedenfalls dazu veranlassen müssen, die Richtigkeit des Protokolls in Zweifel zu ziehen. Der Autor hätte vor der Veröffentlichung am 08.02.2020 weitere Nachforschungen zu den Behauptungen über Dr. Nittel durchführen müssen, z.B. durch Kontaktaufnahme oder eine Recherche im Archiv der Redaktion.

Aus der Stellungnahme des Rechtsanwalts von „kurier.at“ geht hervor, dass an der Vorbesprechung zum Artikel und dem strittigen Aktenvermerk zumindest drei Redakteurinnen teilnahmen, die bereits im Jahr 2011 beim Medium beschäftigt waren. Insofern waren bei der Berichterstattung mehrere Personen involviert, von denen anzunehmen ist, dass ihnen die Gegendarstellung Dr. Nittels bekannt war. Das Argument der Medieninhaberin, dass die Gegendarstellung innerhalb der Redaktion zum Veröffentlichungszeitpunkt nicht mehr erinnerlich gewesen sei, hält der Senat daher für wenig überzeugend.

Darüber hinaus hätte bereits eine kurze Recherche im Archiv ausgereicht, um auf die frühere Berichterstattung zum Aktenvermerk bzw. die Gegendarstellung Dr. Nittels aufmerksam zu werden. Gerade bei einem Ereignis, das wie im konkreten Fall so weit zurückliegt (der erste Bericht über das Treffen erfolgte 2011; das Treffen selbst fand im Jahr 1997 statt), ist es naheliegend, zuerst im Archiv zu recherchieren. Außerdem hebt der Senat hervor, dass die Gegendarstellung von Dr. Nittel aus dem Jahr 2011 nach wie vor online auf der Plattform „kurier.at“ abrufbar ist. Im Sinne einer sorgfältigen Recherche liegt es auf der Hand, diese Gegendarstellung ausfindig zu machen und für die Berichterstattung erneut zu verwenden. In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass anderen Medien dieser einfache Rechercheschritt ohne weiteres möglich war.

Darüber hinaus ergaben eigenständige Recherchen des Senats, dass die Veröffentlichung des Artikels auch innerhalb der Redaktion zu Kritik führte. Diese redaktionsinterne Kritik bestätigt die Sichtweise des Senats, dass beim Verfassen des ursprünglichen Artikels die notwendige journalistische Sorgfalt außer Acht gelassen wurde.

Die später erfolgten Änderungen im Artikel hält der Senat für unzureichend. Zwar wurde der Zusatz angefügt, dass Dr. Nittel im Jahr 2011 eine Gegendarstellung erwirkt habe und zu dieser wurde unterhalb des Artikels auch verlinkt; dennoch vermittelt die Formulierung, dass die Betroffene lediglich „behauptet“ habe bei diesem Treffen nicht dabei gewesen zu sein, weiterhin einen irreführenden Eindruck: Nach Ansicht des Senats verfügen die Leserinnen und Leser im Normalfall nicht über genaue juristische Kenntnisse. Für die meisten Leserinnen und Leser entsteht daher der Eindruck, dass Dr. Nittel über ihre mögliche Teilnahme zwar Gegenteiliges behauptete; dabei geht jedoch völlig unter, dass sie ihre Gegendarstellung auf juristischem Weg erfolgreich durchgesetzt hat. Da das Medium schon zuvor die gebotene Sorgfalt in hohem Ausmaß vernachlässigte, wäre es nach erfolgter Kontaktaufnahme durch das Justizministerium umso mehr erforderlich gewesen, hier präzise zu formulieren und die inkorrekte Darstellung unmissverständlich zu beseitigen.

Das Medium hätte das Protokoll über die vermeintliche Teilnahme Dr. Nittels hinterfragen und zumindest eine einfache Online-Recherche durchführen müssen. Dem Senat erscheint es nicht nachvollziehbar, weshalb das Medium die bereits veröffentlichte Gegendarstellung aus dem Jahr 2011 nicht beachtete und auch im Nachhinein bei der Änderung des Artikels nicht die notwendige Präzision aufbrachte. Der Senat bewertet das wiederholt sorgfaltswidrige Verhalten des Mediums somit als schwerwiegenden Verstoß gegen Punkt 2.1 des Ehrenkodex (Gewissenhaftigkeit und Korrektheit in Recherche und der Wiedergabe von Nachrichten).

– Zum Artikel auf „oe24.at“

Zum Artikel auf „oe24.at“ ist festzuhalten, dass auch in diesem Fall den medienethischen Standards nicht entsprochen wurde: Nach Meinung des Senats wäre es dem Medium ebenfalls zumutbar gewesen, im Zuge einer gewissenhaften Recherche auf die bereits erwirkte Gegendarstellung Nittels aus dem Jahr 2011 aufmerksam zu werden. Der Senat berücksichtigt es allerdings, dass im Artikel neben dem Protokoll auch noch andere Aspekte behandelt werden; so kommt z.B. auch die SPÖ mit einer anderen Sichtweise zu Wort und es wird über einen „Runden Tisch“ im Kanzleramt berichtet.

Nach der Kontaktaufnahme durch das Justizministerium wäre es allerdings auch hier erforderlich gewesen, den Text des Artikels entsprechend zu korrigieren. Der Zusatz, dass Dr. Nittel gegenüber „oe24.at“ dementiere, beim besagten Treffen dabei gewesen sein, erweckt nach Auffassung des Senats den verzerrenden Eindruck, dass Dr. Nittel ihre Teilnahme lediglich informell in Abrede stelle; im Gegensatz zur Änderung auf „kurier.at“ wird hier vollkommen außer Acht gelassen, dass die Betroffene auf rechtlichem Weg eine Gegendarstellung erwirkt hat.

Der Senat stellte die Verstöße gegen den Ehrenkodex fest und forderte die beiden betroffenen Medieninhaberinnen auf, die Entscheidung freiwillig zu veröffentlichen.

Selbständiges Verfahren aufgrund einer Mitteilung des Bundesministeriums für Justiz

Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig.

Im vorliegenden Fall führte der Senat 1 des Presserats aufgrund einer Mitteilung des Bundesministeriums für Justiz ein Verfahren durch (selbständiges Verfahren aufgrund einer Mitteilung). In diesem Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht. Die Medieninhaberin von „kurier.at“ hat von der Möglichkeit, an dem Verfahren teilzunehmen, Gebrauch gemacht, die Medieninhaberin von „oe24.at“ hingegen nicht.

Die Medieninhaberinnen der Tageszeitungen „KURIER“ und der Webseite „oe24.at“ haben die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt.

Tessa Prager, Sprecherin des Senats 1
Tel.: +43 – 1 – 23 699 84 – 11

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