Erwachsenenschutzgesetz: Inklusion nur auf dem Papier?
VertretungsNetz zieht zum Tag der Menschen mit Behinderungen Bilanz: Das neue Erwachsenenschutzgesetz verspricht mehr Selbstbestimmung – die Realität zeigt sich ambivalent.
Rund vier Jahre ist es her, dass Österreich die rechtliche Vertretung von Menschen mit psychischer Erkrankung oder intellektueller Beeinträchtigung an die UN-Behindertenrechtskonvention angepasst hat. Am 1. Juli 2018 löste das 2. Erwachsenenschutzgesetz das alte Sachwalterrecht ab und beendete damit die jahrelange Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen oder psychischer Beeinträchtigung – so die Theorie. Doch wie sieht die Realität der 61.730 Menschen aus, für die in Österreich eine Erwachsenenvertretung registriert ist?
ERWACHSENENVERTRETUNG IN ZAHLEN
Konkret ist das Erwachsenenschutzrecht auf vier Stufen aufgebaut. Neben der Vorsorgevollmacht eröffnet die gewählte Erwachsenenvertretung eine möglichst selbstbestimmte Vertretung, da Betroffene selbst wählen, wer sie in bestimmten Bereichen vertreten soll. Diese Variante wurde in den letzten vier Jahren österreichweit von 6.193 Menschen genutzt. „Unser Ziel ist es, dass möglichst viele Menschen, die eine Erwachsenenvertretung benötigen, eine gewählte errichten. Denn sie garantiert den höchsten Erhalt von Autonomie, Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit über das eigene Leben“, erklärt Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz. „Umso erfreulicher ist es, dass diese Zahl kontinuierlich steigt – heuer um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.“
Demgegenüber stehen 22.194 Personen, für die nächste Angehörige die gesetzliche Erwachsenenvertretung übernehmen. Jene können nicht (mehr) selbst wählen, wer sie vertritt, da der Verlust der Entscheidungsfähigkeit schon zu groß ist. Noch höher ist die Zahl derer, die eine:n gerichtliche:n Erwachsenenvertreter:in haben: 33.343 Menschen waren zum Stichtag 1. Juli 2022 betroffen – 37 Prozent weniger, als zuletzt nach altem Recht „besachwaltet“ wurden. Doch für rund 9.000 dieser Fälle steht noch eine Überprüfung bis zum Ende der Übergangsfrist, 31.12.2023, aus, bei der sich entscheidet, ob eine selbstbestimmtere Form der Erwachsenenvertretung in Frage kommt oder diese überhaupt beendet werden kann, weil es Alternativen dazu gibt. „Überprüfungen wie diese sind jetzt alle drei Jahre nötig. Bei 21.223 Überprüfungsverfahren konnte VertretungsNetz für jeden vierten Fall eine Einstellung der Erwachsenenvertretung empfehlen. Zusätzlich führen wir bei jedem neuen Bestellungsverfahren über eine gerichtliche Erwachsenenvertretung ein verpflichtendes Clearing durch. Seit 2018 hat VertretungsNetz hierfür 25.985 Clearingberichte verfasst, von denen rund 43 Prozent eine Empfehlung zur Einstellung enthalten haben“, zeigt sich Marlovits erfreut.
ERWACHSENENVERTRETUNG IM ALLTAG
Auch wenn sich mit dem Gesetz die rechtliche Handlungsfähigkeit und die Selbstbestimmung der vertretenen Personen erheblich erweitert hat, zeigt der Blick auf Einzelschicksale eine ambivalente Realität. Frau G. wird aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung seit ihrem 18. Lebensjahr vertreten, erst durch eine Sachwalterin und später durch eine gerichtliche Erwachsenenvertreterin. Doch Frau G. fühlte sich von der Rechtsanwältin, die ihr zur Seite gestellt wurde, stigmatisiert und nicht professionell unterstützt. Dank des neuen Erwachsenenschutzgesetzes musste auch ihre Vertretung überprüft werden. Frau G. wurde angehört und bekam eine geeignetere Erwachsenenvertreterin zur Seite gestellt.
Womit sie und andere Betroffene aber bis heute zu kämpfen haben, ist eine Vorverurteilung im Alltag. Wenn zum Beispiel bei einem Bankbesuch die Erwachsenenvertretung zur Sprache kommt, verändert sich häufig das Verhalten der Angestellten – Auskunft und Bankenservice für das eigene Konto werden verwehrt.
„Was Frau G. erlebt, beobachten wir immer wieder. Banken, Behörden oder Institutionen suchen den Kontakt mit der Erwachsenenvertretung und versuchen den Austausch mit den Vertretenen selbst zu vermeiden. Oft werden fadenscheinige Argumente vorgeschoben, obwohl es sich meist um unbegründete Haftungsängste und fehlende Aufklärung handelt“, weiß Marlovits. „Es mangelt häufig am Willen, etwas an den eigenen Abläufen zu ändern. Eine Erwachsenenvertretung bedeutet jedoch keine Entmündigung, sondern die Vertretung in bestimmten Lebensbereichen, wenn diese unvermeidlich ist.“
FEHLENDE UNTERSTÜTZUNG
Tatsächlich ist die Anzahl der gesetzlichen und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen in Summe im Vergleich zur Zahl der früheren Sachwalterschaft sogar um rund fünf Prozent angestiegen. Nicht zuletzt, weil es zu wenig Unterstützungsangebote von Seiten des Bunds, der Länder und Gemeinden gibt, damit Menschen mit psychischer Erkrankung oder intellektueller Beeinträchtigung auch ohne Erwachsenenvertretung zurechtkommen. „Es braucht neben einer bundesweit einheitlichen Persönlichen Assistenz eine Angebotspalette, wie sie vereinzelt in manchen Gemeinden schon gelebt wird: Betreutes Konto, Freiwillige Einkommensverwaltung, Begleitung bei Terminen usw.“, ist Marlovits überzeugt. Mit der nun gestarteten Evaluation des 2. Erwachsenenschutzgesetzes durch den Gesetzgeber sollen die Auswirkungen des grundsätzlich gelungenen Gesetzes erhoben und mögliche Defizite aufgezeigt werden. Er ergänzt: „Was aber bis heute fehlt und endlich nachgeholt werden muss, ist das umfassende Bekenntnis zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – also auch die Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel und Ressourcen. Denn sonst besteht in Österreich Inklusion nur auf dem Papier.“
Verena Baca, MA
VertretungsNetz – Öffentlichkeitsarbeit
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