Sektenlandschaft im Umbruch: Vom Satanismus zur Verschwörungstheorie
Fachkonferenz gibt anlässlich des 25 Jahr-Jubiläums der Bundesstelle für Sektenfragen Rück- und Ausblick zu Trends – Neues Projekt zu Online-Monitoring von Telegram-Kanälen
Vom starken Trend zu Jugendsatanismus und dem Aufkommen erster Suizidforen über die Vormachtstellung von Gruppierungen wie Scientology oder Sahaja Yoga bis zu Staatsverweigerern und Verschwörungstheorien: Die Sektenszene hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. Darüber diskutierten Expertinnen und Experten bei einer Fachkonferenz zum 25-jährigen Jubiläum der Bundesstelle für Sektenfragen, die am Dienstag in Wien stattfand.
„Die Pandemiejahre mit dem starken Aufkommen von Verschwörungstheorien, der Ukrainekrieg und die Energiekrise haben viele Ängste ausgelöst. Das ist auch ein guter Nährboden für Heilsversprechen, etwa aus dem Bereich der Esoterik“, erklärte Ulrike Schiesser, Geschäftsführerin der Bundesstelle. Neben vermehrten Angeboten am Lebenshilfemarkt, die frauenfeindliche Ideologien vertreten, kommt es derzeit zu einem Anstieg von Anfragen von Menschen, die eine sektenartige Gemeinschaft verlassen haben und diese Erfahrung verarbeiten wollen.
Um die Jahrtausendwende stand hierzulande noch der Jugendsatanismus im Fokus der Aufmerksamkeit. Große Themen waren auch kollektive Selbstmorde und der mehrfach angekündigte Weltuntergang rund um den Millenniumswechsel. Dominiert wurde die weltanschauliche Landschaft damals von Gruppierungen wie Scientology, Sahaja Yoga und Jehovas Zeugen.
ESOTERIKANGEBOTE ÜBER TIKTOK UND INSTAGRAM
Von der zunehmenden Internetnutzung und dem Aufkommen der sozialen Medien konnte in den folgenden Jahren vor allem die Esoterikszene profitieren. Die Zahl der entsprechenden, auch internationalen, Angebote legte stark zu. „Inzwischen ist das eine Art Supermarkt, in dem man shoppen geht. Junge Menschen werden vermehrt über TikTok und Instagram adressiert“, so Schiesser. Aktuell sei eine Vermischung des spirituellen Marktes mit Verschwörungstheorien festzustellen.
Ängste rund um Pandemie und kriegerische Auseinandersetzungen werden durch Verschwörungstheorien verstärkt und resultieren oft in familiären Konflikten, die zu aggressiven Konfrontationen und Kontaktabbrüchen führen. Weitere neue Themenfelder sind Transhumanismus, also die Erweiterung der Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz von Technik, Klimakrise und Nachhaltigkeitsprojekte. Antisemitische Hetze wird um einschlägige Narrative rund um LGBTIQ+-Personen ergänzt. „Die meisten Verschwörungsgläubigen haben ihre Position nicht verändert, sondern sich eher radikalisiert“, sagte Schiesser.
STAATSVERWEIGERER WIEDER IM AUFSCHWUNG
Weitere Trends: Die Staatsverweigerer sind nach einem Rückschlag durch die Razzien beim „Staatenbund Österreich“ im Jahr 2017 aktuell wieder im Aufschwung und setzen auf eine Vermischung mit Verschwörungsnarrativen. Mehr Anfragen gibt es auch zu sozial-utopischen Gemeinschaftsprojekten, die sich stark von einer als feindlich empfundenen Außenwelt abkapseln. Zudem häufen sich Beschwerden über verdeckte Missionierungen, zum Beispiel auf Partnerbörsen, Sprachplattformen und Social Media.
Sogenannte Coaching- und Multi-Level-Angebote verleiten besonders junge Menschen zu hohen Investitionen und führen zu Ausbildungsabbrüchen. In manchen Fällen handelt es sich dabei um Pyramidensysteme, die in erster Linie auf das Anwerben neuer Mitglieder zielen. Die Praktiken werden vom Umfeld als „sektenartig“ wahrgenommen. Kein neues Thema sind hingegen Glaubensvorstellungen und Erziehungskonzepte, die eine mögliche Beeinträchtigung des Kindeswohls, etwa durch die Verweigerung des Schulbesuchs, begünstigen.
ONLINE-MONITORING DES COVID-19-PROTESTMILIEUS
Vorgestellt wurden bei der Fachkonferenz außerdem erste Ergebnisse eines Forschungsprojekts zum Telegram-Netzwerk des österreichischen COVID-19-Protestmilieus und zum Einfluss von Verschwörungstheorien innerhalb dieses Netzwerks. Konkret wird derzeit bei der Bundesstelle für Sektenfragen ein entsprechendes softwaregestütztes Online-Monitoringsystem aufgebaut, das quantitative und qualitative Analyse ermöglicht.
Im Zuge der Pandemie haben die durch Verschwörungstheorien geprägten Telegram-Netzwerke hierzulande demnach einen deutlichen Zuwachs erfahren. So wie die Mobilisierungskraft der Protestbewegung auf der Straße seither merklich nachgelassen hat, ging allerdings auch die Reichweite vieler mit ihr in Verbindung stehender Kanäle deutlich zurück. Eine Ausnahme bilden die sogenannten „alternativen Medien“, die nach wie vor viele Menschen mit Nachrichten erreichen.
AUSWEITUNG AUF ANDERE TAGESPOLITISCHE THEMEN
Insgesamt ist die weite Verbreitung von demokratiefeindlichen Verschwörungstheorien im untersuchten Online-Milieu besorgniserregend. Während im Zuge der Pandemie vor allem Verschwörungstheorien und Falschinformationen rund um das Thema COVID-19 auf Telegram kursierten, stehen diese nun auch im Zusammenhang mit anderen tagespolitischen Themen und Krisen wie dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der Klimakrise, Asyl und Migration, dem Themenbereich LGBTQI und seit dem 7. Oktober 2023 auch zunehmend dem Nahost-Konflikt.
Obwohl die Zahlen auf Telegram in der Gesamtheit aktuell rückläufig sind, nimmt die Bundesstelle für Sektenfragen die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien auf weiteren Social-Media-Plattformen mit großer Sorge wahr. Insbesondere Kinder und Jugendliche laufen Gefahr, hier mit Verschwörungstheorien, Falschinformationen und polarisierenden Inhalten konfrontiert zu werden. Ein Zwischenbericht zu diesem Projekt erscheint voraussichtlich noch im Dezember 2023.
STATEMENT BUNDESMINISTERIN SUSANNE RAAB:
„In Zeiten zunehmender Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien ist es umso wichtiger, dass es seriöse Stellen wie die Bundesstelle für Sektenfragen gibt, die in den verschiedensten Bereichen Erkenntnisse sammelt, gefährliche Entwicklungen aufdeckt und Beratungen für Betroffene anbietet. Seit nunmehr 25 Jahren gilt die Sektenstelle als ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen jene Gefahren, die Einzelpersonen und die Gesellschaft durch ihre Ideologien vereinnahmen wollen oder wenn es um den Schutz des Kindeswohls und der Kinderrechte in sektenartigen Gruppen geht.“
BUNDESSTELLE FÜR SEKTENFRAGEN
Die Bundesstelle für Sektenfragen bietet sachliche Informationen und individuelle Beratung zum Themenbereich „sogenannte Sekten“ und Weltanschauungsfragen. Dazu gehören unter anderem alternative religiöse Bewegungen, Esoterik, spezifische Angebote zur Lebenshilfe, fundamentalistische Strömungen, Verschwörungstheorien, sozial-utopische Aussteigergruppen und Pyramiden- bzw. Schneeballsysteme. Sie agiert als zentrale Anlaufstelle sowohl für Privatpersonen, als auch Institutionen und staatliche Einrichtungen. Die Schwerpunkte liegen auf objektiver Information und Dokumentation sowie der kostenlosen und vertraulichen Beratung von Betroffenen, Angehörigen und Bezugspersonen.
Seit der Aufnahme ihrer Tätigkeit im November 1998 wurden rund 12.900 Beratungsfälle registriert, über 38.000 Personen betreut und Anfragen zu insgesamt 3.400 unterschiedlichen Gemeinschaften, Organisationen und Themen beantwortet. Die Bundesstelle ist weisungsfrei, konfessionell unabhängig und weltanschaulich neutral. In ihrer Informations- und Beratungstätigkeit werden Glaubensfragen oder religiöse Vorstellungen nicht beurteilt oder bewertet, im Mittelpunkt steht immer die Frage nach möglichen Gefährdungen für ein Individuum oder eine Personengruppe.
Zu den Aufgaben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehören außerdem die Zusammenarbeit mit Fachstellen aus dem In- und Ausland sowie mit staatlichen Einrichtungen, die Vernetzung mit anderen Institutionen, laufende Recherche, Dokumentation und Information sowie Medien- und Öffentlichkeitsarbeit.
Mag.a Ulrike Schiesser
Bundesstelle für Sektenfragen
Wollzeile 12/2/19, 1010 Wien
+43 1 513 04 60
bundesstelle@sektenfragen.at
www.bundesstelle-sektenfragen.at
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