Tag der Parlamentsforschung: Untersuchungen loten Spannungsfeld zwischen demokratischen und wissenschaftlichen Ansprüchen aus
Kommendes Forschungsjahr stellt Entscheidungsprozesse von Parlamentarier:innen ins Zentrum
Am Nachmittag des heutigen Tages der Parlamentsforschung stand die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise in der parlamentarischen Praxis im Zentrum. So stellte die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Bianca Winkler die vorläufigen Ergebnisse ihres Forschungsvorhabens „Die Rezeption von Wissenschaftsdiskursen in der Debattenkultur des Parlaments“ vor. Dieses wurde im vergangenen Jahr für das erstmals ausgelobte Forschungsjahr im Parlament vom Wissenschaftlichen Beirat ausgewählt. Im Anschluss präsentierte Parlamentsvizedirektorin Susanne Janistyn-Novák das für dieses Jahr auserkorene Forschungsprojekt: Josef Lolacher, Politikwissenschaftler an der Universität Oxford, wird sich mit der Entscheidungsfindung von Parlamentarier:innen im Zwiespalt zwischen Expert:innenwissen und öffentlicher Meinung beschäftigen.
Schließlich widmete sich zum Abschluss des Tages eine Podiumsdiskussion nochmals dem übergeordneten Thema „Performance“ im politischen Betrieb. Lotte de Beer, Direktorin der Volksoper Wien, Politikberater Thomas Hofer und Emma Crewe, Anthropologin an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der University of London, tauschten ihre Perspektiven auf das Feld aus. Philosoph und Historiker Philipp Blom moderierte den Austausch.
FORSCHUNGSJAHR: FOLGEN PARLAMENTARIER:INNEN DER MEINUNG VON EXPERT:INNEN ODER DER BEVÖLKERUNG
„Was meinen Politiker:innen, wenn sie von Wissenschaft sprechen?“ ist laut Bianca Winkler die Kernfrage ihres Forschungsprojekts. Sie versucht darin unter anderem herauszufinden, ob die Wissenschaften und Forscher:innen tatsächlich als wichtige Referenzpunkte für politisches Handeln herangezogen werden, oder ob „die Wissenschaft“ lediglich rhetorische Verwendung findet, um der eigenen Argumentation mehr Autorität zu verleihen. Um sich dieser Frage anzunähern, hat Winkler unter anderem die Stenograph:innen der Parlamentsdirektion und die Wissenschaftssprecher:innen der Parteien interviewt. Eines ihrer vorläufigen Erkenntnisse ist, dass die wissenschaftliche Weltsicht über die Jahre zwar an rhetorischer Signifikanz gewonnen habe, tiefergehende Reflexionen etwa über Studien jedoch nicht stattfänden – auch nicht während der COVID-19-Pandemie. In dieser Zeit habe aber der Begriff „Evidenz“ den Höhepunkt seiner „Karriere“ erreicht, wie Winkler ausführte. Zudem herrsche im österreichischen Parlament ein breites Spektrum an Interpretationen des Wissenschaftsbegriffs vor.
Politikwissenschaftler Josef Lolacher, dessen Projekt das kommende Forschungsjahr des Parlaments bestimmen wird, sprach von den zwei Seiten, aus denen die repräsentative Demokratie gegenwärtig unter Druck gerate. So kritisierten einerseits „Populist:innen“ die „Abgehobenheit des Systems“ und seiner Repräsentant:innen von den Bedürfnissen der Bevölkerung. Anderseits bemängelten „Technokrat:innen“ die Fixierung der Politik auf kurzfristige Wahlerfolge, bei gleichzeitiger Vernachlässigung eines nachhaltigen Gemeinwohls. Dieser Konflikt, der sich auch auf die einzelnen Parlamentarier:innen umlegen lasse, stehe im Zentrum seiner Forschung, wie Lolacher erklärte. Dazu will er unter anderem die Prozesse der Wissensgenerierung sowie der Entscheidungsfindung von Abgeordneten in den Parlamenten von Österreich, Deutschland und Großbritannien untersuchen. Auf theoretischer Ebene sollen dabei politikwissenschaftliche und verhaltensökonomische Literatur und in methodologischer Hinsicht quantitative und qualitative Ansätze zusammengebracht werden. Praktisch verspricht sich Lolacher von seiner Forschung die Entwicklung von Strategien zur Verbesserung der Kommunikation sowohl von Expert:innen als auch von Bürger:innen mit politischen Entscheidungsträger:innen.
PODIUMSDISKUSSION ÜBER DIE „PERFORMATIVEN“ VORAUSSETZUNGEN EINER LIBERALEN DEMOKRATIE
Zur Einleitung in die Podiumsdiskussion konfrontierte Moderator Philipp Blom die Diskutant:innen mit dem bekannten Böckenförde-Theorem, wonach ein freiheitlicher, säkularer Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Anthropologin Emma Crewe stimmte diesem zu und erklärte, dass eine liberale Demokratie vor allem Bürger:innen benötige, die sich in den demokratischen Prozess einbringen. Die Demokratie wiederum lebe vor allem davon, wie sie „performed“ würde, verwies sie beispielhaft auf die lebhaften Fragestunden mit dem britischen Premierminister im Unterhaus. Dabei spielten auch Symbole und Rituale eine entscheidende Rolle, da sie auch politischen Prozessen ihre notwendige Struktur geben würden.
Politikberater Thomas Hofer sah eine Entwicklung von der Demokratie zur „Emokratie“, in der Emotionen weit mehr Gewicht erhielten als Fakten. Unter diesen Emotionen seien vor allem Hoffnung und Angst die prägendsten für die politische Kommunikation, wobei die Vermittlung von Hoffnung weit mehr kommunikative Leistung benötige. Laut Hofer verstärke die heutige Medienlandschaft diesen „Trend zur Negativität“ wesentlich und in Zukunft würde die Künstliche Intelligenz die Entwicklung zum „Postfaktischen“ enorm beschleunigen.
Lotte de Beer, Direktorin der Volksoper, erinnerte dieser Diskurs an ihre Schauspielausbildung, in der ihr in postmoderner Tradition beigebracht worden sei, dass es viele Wahrheiten nebeneinander gebe. Diese Weltsicht in Kombination mit den Möglichkeiten der sozialen Medien stelle jedoch für die Politik und ihre Debattenkultur ein großes Problem dar, da sich jeder Mensch in seine selbstreferenzielle „Bubble“ zurückziehen könne. Als Theatermacherin gehe es ihr hingegen darum, eine „radikale Verbindung“ mit ihrem Publikum herzustellen. Jedes Stück sei eine „Übung in Empathie“, in der sich der Rezipient oder die Rezipientin drei Stunden lang in einen Schauspieler bzw. eine Schauspielerin einfühlen lerne, so de Beer. (Schluss Tag der Parlamentsforschung) wit
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