Neun starke Projekte gegen das Vergessen: Stadt Wien fördert zeitgemäße Erinnerungsformate mit 800.000 Euro
Projekt-Call “Geschichte(n) Wiens” anlässlich 80 Jahre Zweite Republik folgten 80 Einreichungen: Jury wählte neun wissenschaftsbasierte Projekte, Dialog- und Vermittlungsformate
Vergangenen Sommer initiierte die Stadt Wien mit Blick auf das Republik-Jubiläum 2025 unter dem Titel “Geschichte(n) Wiens” einen Projekt-Call: Nun können neun, im Rahmen dieses Förderprogramms eingereichte und von einer Jury ausgewählte wissenschaftsbasierte Projekte, Dialog- und Vermittlungsformate zur Förderung einer lebendigen Erinnerungskultur realisiert werden.
GENESE DES PROGRAMMS
Angestoßen wurde “Geschichte(n) Wiens” in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, mit denen die Erinnerungskultur in der Gegenwart konfrontiert ist: 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gehen durch den Verlust von Zeitzeug*innen moralische Instanzen und unmittelbare Erzählungen unwiderbringlich verloren, während revisionistische Geschichtsbilder wieder salonfähig geworden sind. Die Stadt Wien betrachtet die kritische Reflexion des Vergangenen, insbesondere jener Momente, die Frieden und Demokratie gefährden, aber als eine aus der Historie erwachsende Verpflichtung und sieht sich daher verantwortlich, diese Auseinandersetzung zu fördern.
Eine zeitgemäße Erinnerungskultur, so wurde es in der Wiener Kulturstrategie 2030 festgehalten, stellt über neue Ansätze und Formate der Vermittlung den Transfer ins Heute und Verständnis für die Relevanz des Vergangenen her. Insbesondere der Dialog sowie die partizipative Einbindung und Repräsentation einer zunehmend diverser werdenden Stadtgesellschaft und ihrer bislang verborgenen Geschichten, ist für eine differenzierende Gedenk- und Erinnerungskultur zunehmend wichtig.
DER PROJEKT-CALL
Der in Folge ausgelobte – und dem Gedenken an die 2023 verstorbene Zeithistorikerin Heidemarie Uhl gewidmete – Call suchte Dialog- und Vermittlungsformate für eine breite Öffentlichkeit – wissenschaftlich fundiert, gleichzeitig kreativ und innovativ in ihrem Vermittlungsanspruch. Herausgearbeitet werden sollte, dem Verständnis von universaler Erinnerung folgend, Gemeinsames und Verbindendes in den kollektiven Erinnerungen an Wiens Zeitgeschichte. Als historische Referenzpunkte standen dabei Momente der Demokratie- und Republikgeschichte, wie etwa 80 Jahre Kriegsende und Zweite Republik, zur Auswahl.
Beim Referat für Wissenschafts- und Forschungsförderung der Kulturabteilung der Stadt Wien gingen 80 formal gültige Einreichungen ein. Die Mitglieder der Fachjury, Matti Bunzl (künstlerisch-wissenschaftlicher Direktor Wien Museum), Andreas Kranebitter (Leiter des Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands DÖW) , Michaela Raggam-Blesch (Universität Wien), Pia Schölnberger (BMKÖS) und Luisa Ziaja (Österreichische Galerie Belvedere), wählten daraus neun Projekte aus. Das Gesamtvolumen des Förderprogramms beträgt 800.000 Euro; Einzelvorhaben können maximal mit 150.000 Euro gefördert werden. Die Projekte mit einer Laufzeit zwischen sechs und 18 Monaten starten zwischen April und Mai 2025. Für das Frühjahr ist eine Vorstellung der geförderten Projekte geplant (Gesonderte Terminankündigung).
KAUP-HASLER: NEUE IMPULSE AUCH FÜR DIE VERMITTLUNG KOLLEKTIVER WERTE
“Die unmittelbare Gegenwart mahnt uns, die überall auf der Welt unter Druck geratende Demokratie zu schützen, aber auch jener Momente zu erinnern, in der sie in Bedrängnis geriet. In vielen Projektvorhaben des Calls ‘Geschichte(n) Wiens’ ist die Sorge um ‘Geschichte, die sich wiederholt’ spürbar, wird doch die Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus stark in den Blick genommen, ohne dabei auf einen Transfer ins Heute zu vergessen. Diese vielfältigen Impulse sind mutmachend, den sie erklären Widerstand gegen Unrecht, Totalitarismus, Hass und Ausgrenzung zu kollektiven Werten unserer Gesellschaft,” unterstreicht Wiens Stadträtin für Kultur und Wissenschaft, Veronica Kaup-Hasler, die Wichtigkeit des Projekt-Calls.
MATTI BUNZL: ERINNERUNG MIT KLAREM BLICK AUF DIE GEGENWART
„Erinnerungskultur ist kein statisches Konzept, sondern ein lebendiger, sich wandelnder Prozess. Die Projekte, die wir im Rahmen des Calls ‚Geschichte(n) Wiens‘ ausgewählt haben, tragen diesem Gedanken Rechnung: Sie nähern sich der Vergangenheit mit wissenschaftlicher Fundierung, kreativen Ansätzen und einem klaren Blick auf die Gegenwart. Besonders beeindruckt hat mich, wie diese Vorhaben verschiedene Perspektiven miteinander in Dialog bringen – sei es durch partizipative Formate, künstlerische Auseinandersetzungen oder innovative Vermittlungsansätze. In einer Zeit, in der Geschichtsvergessenheit und revisionistische Narrative wieder an Boden gewinnen, sind diese Projekte essenziell: Sie machen deutlich, dass Erinnerung nicht nur dem Gedenken dient, sondern auch eine Verantwortung für die Zukunft bedeutet.“
STEFAN GARA: FAKTENBASIERTE AUSEINANDERSETZUNG IST ESSENZIELL
„Die Stadt Wien nimmt ihre Verantwortung ernst, Geschichtsbewusstsein auf der Basis wissenschaftlicher Fakten zu stärken. Denn eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist essenziell, um demokratiegefährdenden Tendenzen entgegenzuwirken. Die geförderten Projekte zeigen, wie Wissenschaftskommunikation helfen kann, Erinnerungskultur für eine digitalisierte Gesellschaft zu gestalten – und sie gegen Verzerrung und Geschichtsrevisionismus zu verteidigen, ergänzt Stefan Gara, Abgeordneter zum Wiener Landtag, Gemeinderat und Wissenschaftssprecher Neos“
DIE AUSGEWÄHLTEN PROJEKTE IM EINZELNEN
„BAUSTELLE ANTISEMITISMUS – MODULE FÜR ERINNERUNGSPOLITISCHE LERNPROZESSE IN DER MIGRATIONSGESELLSCHAFT“
Bildungsverein Lernen in gesellschaftlichen Spannungsfeldern (Förderhöhe: 150.000 Euro):
Dieses Projekt entwickelt, erprobt und beforscht ein flexibles und sich in der Partizipation erweiterndes Lerntool an der Schnittstelle von Antisemitismus und Migration. Mobile Boxen, die auch als Objekte – etwa zum Sitzen – nutzbar sind, enthalten verschiedenste Materialien zur Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus in Wien. Der Prozess der Auseinandersetzung richtet sich an verschiedene Zielgruppen und ist dynamisch gestaltet, denn Ergänzungen, neue Fragestellungen und Änderungen fließen zurück in die Boxen um dort studiert und bearbeitet zu werden. Geschichte wird so als Aushandlungsprozess erlebt.
„WIEN. KRANKENSAAL 1945. WISSENSCHAFTLICH, KÜNSTLERISCH, DIGITAL: DIE AMBIVALENTEN FUNDAMENTE DER ERINNERUNG AN DAS NS-ERBE IN WIEN NACH 1945“ (Förderhöhe: 140.000 Euro)
Österreichische Akademie der Wissenschaften:
Die Aufarbeitung bisher unerschlossener Patient*innenakten der Psychiatrischen Klinik des Wiener AKH aus dem Jahr 1945 bildet das Fundament des Projekts. In der Psychiatrie wurden damals u.a. sowohl Zwangsarbeiter*innen, vorfolgte Jüd*innen, KZ-Überlebende, Widerstandskämpfer*innen, aber auch NSDAP- Mitglieder und Wehrmachtssoldaten behandelt. Über die Patient*innenakten wird die kollektive Zerrissenheit zwischen Opfer- und Täterrolle anschaulich. Die Forschung zu individuellen Erfahrungen von Krieg und Verfolgung stellt die Basis für die in einem zweiten Schritt folgende Entwicklung künstlerischer Bühnenformate dar und soll auch digital und interaktiv mittels Webapplikation vermittelt werden.
„ARCHIV DES ZUHÖRENS: EIN AUDIOGRAPHISCHES DENKMAL FÜR WIEN OTTAKRING“
Citizen Carol, Verein für kritische Zusammenhänge in den darstellenden Künsten (Förderhöhe: 135.000 Euro):
Der Sandleitenhof in Ottakring mit seiner fast 100-jährigen Geschichte und seiner vierfältigen Community wird in diesem Projekt zum lebendigen Wissensspeicher, zum Denkmal und Schauplatz zugleich. In moderierten Begegnungen wird Bewohner*innen die Geschichte des Hauses, etwa jene der Februarkämpfe 1934 oder die Vertreibung jüdischer Bewohner*innen während des Nationalsozialismus nähergebracht. Ebenso wird die Geschichte des Sandleitenhofs in Form lebensgeschichtlicher Erzählungen, die gleichermaßen von „Alteingesessenen“ wie „Neuzugezogenen“ eingeholt werden, fortgeschrieben. Das “Archiv des Zuhörens” soll individuelle Lebensgeschichten und Erinnerungskulturen produktiv miteinander verflechten.
„ERINNERUNG, SPRICH“
Science Communications Research – Verein zur Erforschung der Wissenschaftsvermittlung (Förderhöhe: 116.000 Euro):
Inszeniert wird ein Live-Casting für biografische Erinnerungen verschiedener Generationen heutiger Wiener*innen. Die Kandidat*innen spiegeln die Vielfalt der nach Wien Zugewanderten nach 1945 wider. Die individuellen Erinnerungen, die bei diesem Gedächtnistheater hervorgebracht werden, werden von Wissenschaftler*innen in ihre historischen Kontexte gesetzt.
„RESONANZ & WIDERSTAND: DEM KLANG DER WIENER GEGENKULTUR AUF DER SPUR“
a_maze – Verein zur Förderung audio-visueller Kunst (Förderhöhe: 87.000 Euro):
Das Projekt widmet sich auf künstlerische Weise und unter Einsatz digitaler Technologien der Geschichte der sogenannten „Schlurfs“. Während der Zeit des Nationalsozialismus gerieten sie als Angehörige der Arbeiterschicht und Jazz-Liebhaber*innen in Konflikt mit dem Regime. Auf transmedialen Erinnerungsradtouren wird ihre Geschichte vermittelt und dabei gleichzeitig ein Bogen zur zeitgenössischen Wiener Musik(gegen)kultur gespannt.
„WIENERBØRN. DIE INTERNATIONALE HILFE FÜR DIE WIENER KINDER NACH 1945“
Einküchenhaus. Verein zur Erforschung emanzipatorischer Wohnmodelle (Förderhöhe: 63.000 Euro):
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war Österreich und insbesondere Wien nicht in der Lage seine Bevölkerung ausreichend zu versorgen, mit verheerenden Folgen für Leben und Gesundheit der Kinder. Zahlreiche unterernährte und kranke Kinder wurden vorübergehend ins Ausland zu Pflegefamilien vermittelt. Aus Zeitzeug*inneninterviews und Forschungsquellen sollen emotionale Identifikationsmomente für junge Wiener*innen geschaffen werden, die selbst Erfahrungen mit Fremdsein, Sprach- und Kulturwechsel gemacht haben. Das Projekt sieht Vermittlungsformate an Schulen, die digitale Aufbereitung der Forschung und die Gestaltung eines Podcasts vor.
„MUTIG DEMOKRATIE WIDERSTÄNDIG MACHEN – PARTIZIPATIVES THEATER RUND UM DEN WIDERSTAND GEGEN DEN AUSTROFASCHISMUS IM WIEN DER 1930ER JAHRE“
Theater der Unterdrückten Wien (Förderhöhe: 49.000 Euro):
Von der Zeit des Austrofaschismus wird eine Brücke in die Gegenwart geschlagen, werden die Polarisierungen in der Gesellschaft damals wie heute thematisiert. Ein bereits entwickeltes Theaterstück für Erwachsene wird im Rahmen des Projekts für Jugendliche bearbeitet und soll in Form eines interaktiven Stationentheaters im Stadtraum, z.B. im Gemeindebau, in dezentralen Stadtteilen Wiens aufgeführt werden. Geschichte wird in Diskussionen und Workshops noch greifbarer, in denen der Gegenwartsbezug und Aspekte wie Zivilcourage und Konfliktlösung vertieft werden.
„ZWEIFELHAFTE VERGNÜGUNGEN – VIELFALT UND KRITIK IN DER LEOPOLDSTADT“
hint.wien, Verein zur Förderung intersektionaler queerer Kultur und Kollaboration (Förderhöhe: 30.000 Euro):
Rund um die Jahrhundertwende und bis in die 1930er Jahre hinein wurden im Wiener Prater sogenannte „Völkerschauen“ veranstaltet. Die Reaktionen aus der Bevölkerung auf diese Zurschaustellung waren sehr unterschiedlich; es kam sowohl zu rassistischen Beschimpfungen und Angriffen als auch zu öffentlicher Kritik und Widerstand der Besucher*innen. Diese damaligen Auseinandersetzungen um Vielfalt und Diskriminierung sind Ausgangspunkt für das Erinnerungsprojekt in der Leopoldstadt, das sowohl akademische als auch künstlerische Aktivitäten setzen wird und zudem die afro-österreichische Diaspora zum Thema macht.
„RUTH KLÜGER UND CEIJA STOJKA – AUF DEM GALGENPLATZ BLÜHT JETZT DER FLIEDER. DICHTEN ALS KAPSEL DER ERINNERUNG“
Jolifanta bambla – Verein zur Förderung von Kunst, Kultur und Wissenschaft (Förderhöhe: 30.000 Euro):
Ruth Klüger und Ceija Stojka verbindet ein tragisches Schicksal: Aus unterschiedlichen kulturellen und sozioökonomischen Kontexten kommend, – Klüger entstammte einer jüdischen Arztfamilie, Stojka gehörte der Gruppe der Lovara-Romn*ja an – wuchsen beide Frauen zur Zeit des Nationalsozialismus auf, ihre Väter und Brüder wurden ermordet, sie selbst jedoch überlebten das Konzentrationslager. Ihre traumatischen Erfahrungen von Gewalt und Terror haben beide u.a. in ihrer Lyrik verarbeitet. Herzstück des Projekts ist eine Ausstellung, die die künstlerischen Gemeinsamkeiten in ihren lyrischen Werken in den Fokus rückt. Ergänzt wird die Ausstellung durch ein niederschwelliges Rahmenprogramm und ein Vermittlungsformat für Schulklassen.
MEHR INFORMATIONEN ZUM CALL “GESCHICHTE(N) WIENS”:
https://www.wien.gv.at/amtshelfer/kultur/projekte/subventionen/projektausschreibung-2024-formen-des-erinnerns.html
Anne Katrin Feßler
Mediensprecherin StRin Mag.a Veronica Kaup-Hasler
+43 1 4000 – 811 91
annekatrin.fessler@wien.gv.at
OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at
© Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender
Kommentare sind geschlossen, aber trackbacks und Pingbacks sind offen.