TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Ein Gerechter und Zeitloser“, Ausgabe vom 22. Dezember 2021 von Peter Nindler.
Innsbruck (OTS) – Heute wäre Altbischof Reinhold Stecher 100 Jahre alt geworden. Der Blick zurück ist auch einer nach vorne. Denn das Vermächtnis und das Wirken der 2013 verstorbenen moralischen Instanz des Landes bleibt aktueller denn je.
Die Seele Tirols war dem 2013 verstorbenen Altbischof Reinhold Stecher immer ein großes Anliegen, als moralische Instanz hat er sich allerdings nie gesehen. Doch zeitlebens verkörperte Stecher dieses prüfende und vergleichende Nachdenken. Grübelnd und lächelnd, doch mit einer ihm innewohnenden Tiefgründigkeit. Und sensibilisiert für Fehlentwicklungen im Land, in der katholischen Kirche und in der Gesellschaft, die der als Seelsorger, Lehrer und 16 Jahre lang als Oberhirte der Diözese Innsbruck klar und deutlich benannte.
Mit einer längst bröckelnden Volkskirche konfrontiert, blieb Stecher trotzdem ein Volksbischof und wirkte weit über das Katholische hinaus. Mit dem Klischee des „heiligen Landes“ konnte er deshalb ebenso wenig etwas anfangen wie mit dem erzkonservativen und herrschaftlichen Kirchenkurs, den Johannes Paul II. mit den umstrittenen Ernennungen von Kardinal Hans Hermann Groër (Wien), Bischof Kurt Krenn (St. Pölten) oder Erzbischof Georg Eder (Salzburg) in Österreich Mitte der 1980er-Jahre etablierte. In dieser Glaubenswelt fühlte sich Stecher nicht wohl, weil Versöhnung und Aussöhnung seinen Lebensblick prägten. Schließlich hatte er in jungen Jahren so viel Hass, Feindschaft, Ausgrenzung, Rechtlosigkeit, Gestapo-Haft, die Schrecken des Weltkriegs und die Entmenschlichung durch den Nationalsozialismus erlebt.
Die Überwindung eines latenten Antisemitismus, das Verbot des Anderl-Kults in Rinn, der Dialog mit der israelitischen Kultusgemeinde in Innsbruck und generell mit dem Judentum machten ihn zu einem Gerechten. Gesellschaftspolitisch verinnerlichte Reinhold Stecher die Caritas, eine Grundhaltung gegenüber den Menschen und der Schöpfung. Nicht an den Rand drängen, nicht zerstören, sondern Notleidenden helfen und die Umwelt bewahren: Stechers Botschaften sind aktueller denn je und offenbaren die Zeitlosigkeit einer Tiroler Lichtgestalt und eines Stücks bemerkenswerter regionaler Zeitgeschichte.
Das gilt genauso für die Kirche. Stecher hatte stets ein gutes Gespür für notwendige Veränderungen in seiner Glaubensgemeinschaft. In den kurz vor Ende seiner Amtszeit 1997 bekannt gewordenen Briefen warf er Rom vor, „das Image der Barmherzigkeit verloren und sich das der repräsentativen und harten Herrschaft zugelegt“ zu haben. Als ob man 25 Jahre später Papst Franziskus reden hört, der seit Beginn seines Pontifikats beinahe machtlos gegen verkrustete Strukturen und ein modriges bzw. intransparentes System in der Kurie und im Kirchenstaat ankämpft.
Gestern, heute, morgen: Reinhold Stecher bleibt ein Gerechter und Zeitloser.
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