Vorbild Südtirol: Buchpräsentationen und Podiumsdiskussion im Parlament zu Fragen der Autonomie und des Minderheitenschutzes

Überparteiliche Einigkeit über die Schutzfunktion Österreichs

Südtirol und seine Autonomie als mögliches Modell für die Lösung von Minderheitenfragen auf der ganzen Welt standen gestern Abend im Zentrum von zwei Buchpräsentationen und einer Podiumsdiskussion im Parlament. Nach Eröffnungsworten von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und dem Initiator der Veranstaltung, Hermann Gahr (ÖVP), präsentierte der langjährige Abgeordnete zum Südtiroler Landtag und zum italienischen Parlament, Oskar Peterlini, sein Buch „Autonomie als Friedenslösung“, in dem er den Vorbildcharakter Südtirols für viele Minderheiten in der Welt herausstreicht. Die Frage einer möglichen Eigenstaatlichkeit der autonomen Provinz beleuchtet das von insgesamt 16 Autoren verfasste Buchprojekt „Kann Südtirol Staat?“, das von zwei der Autoren – Harald Mair, Präsident des Vereins Noiland Südtirol-Sudtirolo und dem Anwalt Marco Manfrini – vorgestellt wurde.

In einer anschließenden Podiumsdiskussion tauschten sich die Südtirol-Sprecher:innen der Parlamentsfraktionen über Zukunftsperspektiven für Südtirol – insbesondere im Rahmen eines vereinten Europas – aus. Das Weiterbestehen der Schutzfunktion Österreichs wurde dabei von allen Teilnehmer:innen betont. Abschließend stellte der Südtiroler Künstler Clemens Cervenka seine Skulptur „Floating Chains“ vor. Fünf aus einem Stück Holz herausgearbeitete und zusammenhängende Glieder symbolisieren den Zusammenhalt unterschiedlicher Völker und die notwenige Annäherung verschiedener Weltanschauungen. Durch den Abend führte Journalist Wolfgang Mayr.

SOBOTKA UND GAHR: SCHUTZFUNKTION ÖSTERREICHS „SELBSTVERSTÄNDLICH“

In seinen Eröffnungsworten hob Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka die Einzigartigkeit des historischen Prozesses hervor, in dem Südtirol seine Autonomie erlangt habe. Auch wenn diese immer wieder von Aushöhlung bedroht sei, hätten es die Südtirolerinnen und Südtiroler verstanden, „mit großer Ernsthaftigkeit“ ihre kulturellen Eigenheiten zu bewahren. Insbesondere durch den europäischen Einigungsprozess habe sich das Verhältnis der Nationalstaaten zueinander und damit auch die Lage Südtirols entscheidend verbessert. Das Südtiroler Beispiel könne heute als „Role Model“ für viele weitere Regionen Europas fungieren, wie Sobotka in Hinblick auf den Westbalkan und die dortigen ethnischen Konfliktkonstellationen ausführte. Österreichs Schutzfunktion für die autonome Provinz sah er als „selbstverständlich“ an und sicherte zu, dass Südtirol immer „einen Platz im österreichischen Parlament“ haben werde.

Auch Hermann Gahr, Südtirol-Sprecher der ÖVP und Initiator der Veranstaltung, sah die Schutzfunktion als „klaren Auftrag“ für Österreich an und lieferte einen Rückblick auf die Südtiroler Geschichte. Das von der dortigen Bevölkerung erlittene Unrecht, das mit der Abtrennung von Österreich nach dem Ersten Weltkrieg begonnen habe, bleibe auch heute noch Unrecht. Wie Gahr ebenfalls festhielt, habe die EU-Integration zahlreiche Verbesserungen für die Lage der Südtiroler:innen mit sich gebracht. Gemeinsame europäische Herausforderungen, etwa in den Bereichen Verkehr, Wirtschaft oder Migration, könnten nun auch gemeinsam bewältigt werden. Nichtsdestotrotz brauche es auch für die Zukunft eine „starke Achse“ zwischen Österreich und Südtirol.

PETERLINI ÜBER DIE BEDEUTUNG EINER WIRKSAMEN POLITISCHEN VERTRETUNG VON MINDERHEITEN

Unter dem Titel „Autonomie als Friedenslösung“ unterzog Oskar Peterlini, langjähriger Senator und Dozent an der Universität Bozen, Südtirols Autonomie einer eingehenden Analyse. Im Parlament legte er einen historischen Abriss über deren wechselhafte Entwicklung hin zu immer mehr Eigenständigkeit dar. So habe sich die mangelhafte inhaltliche Ausgestaltung der Autonomie Südtirols im Gruber-De-Gasperi-Abkommen von 1946 zunächst als Nachteil dargestellt, erweise sich aber nun als Vorteil, da ihr praktisch kaum Grenzen gesetzt seien. Peterlini unterstrich die Bedeutung des Minderheitenschutzes nicht nur im kulturellen Bereich – es gehe nicht darum, „Reservate“ zu schaffen. Er betonte vielmehr die Notwendigkeit einer wirksamen politischen Vertretung, um die eigenen Interessen auch verteidigen zu können.

In dieser Hinsicht wies Peterlini auch auf die Gefahren autoritärer Tendenzen in der Gesamtgesellschaft hin, die etwa der einst weit fortgeschrittenen Autonomie Hongkongs zum Verhängnis geworden seien. Schließlich äußerte er die Hoffnung, dass nationalstaatliche Grenzen in einem vereinten Europa als solche überwunden werden können, und Minderheiten sich die Autonomie-Frage in dieser Form nicht mehr stellen müssen.

MAIR UND MANFRINI BELEUCHTEN IDEE DER EIGENSTAATLICHKEIT SÜDTIROLS

Trotz des „provokanten“ Titels des Buchprojekts „Kann Südtirol Staat?“ sei es dem 16-köpfigen Autorenkollektiv um eine Versachlichung der Diskussion um ein stark emotionalisiertes Thema gegangen, erklärte Autor Marco Manfrini. Es handle sich auch um „kein Handbuch für eine Sezession“, wie sein Co-Autor und Präsident des Vereins Noiland Südtirol-Sudtirolo Harald Mair ergänzte. Vielmehr sei es vor dem Hintergrund der Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Katalonien das Ziel gewesen, die Vor- und Nachteile sowie die Chancen und Risiken einer Eigenstaatlichkeit Südtirols aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Für Mair biete eine Selbstständigkeit der Region klare Vorteile und auch circa ein Viertel der italienischsprachigen Südtiroler:innen würde sich laut Umfragen dafür aussprechen. Dies biete die Grundlage dafür, einen demokratischen Diskurs darüber anzustoßen. Aus Mairs Sicht erlaube ein starkes Europa auch die Eigenständigkeit kleiner Staaten, da die EU bereits viele Aufgaben übernehme.

Aufgrund der heterogenen Verfasstheit Südtirols regte Manfrini das Konzept einer „Willensnation“ nach Schweizer Vorbild an, das es allen Menschen unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund erlaube, an einem solchen „Neustart“ teilzuhaben. Aus diesem Grund hielt auch er eine „Demokratisierung der Grenzen“ im Sinne der Selbstbestimmung von Minderheiten für „überfällig“.

SÜDTIROL-SPRECHER:INNEN DER FRAKTIONEN IM AUSTAUSCH ÜBER MÖGLICHE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN

Im Rahmen der Podiumsdiskussion der Südtirol-Sprecher:innen der Parlamentsparteien unterstrich Hermann Gahr (ÖVP) neben der Schutzfunktion Österreichs auch die Bedeutung der Eigenverantwortung der Südtiroler:innen. Die Stärkung ihrer Autonomie müsse auf ihrem eigenen politischen Willen fußen. Dieser sei auch grundsätzlich vorhanden, nur fehle die Einigkeit über den Weg dahin, so Gahr.

Auch Selma Yildirim (SPÖ) betonte die weitere Relevanz der Schutzfunktion und der Wissensweitergabe über deren Relevanz. Sie sah ihre Aufgabe als Südtirol-Sprecherin vorrangig darin, die Südtiroler Bevölkerung in ihren Anliegen auf diplomatischem Wege zu unterstützen. Im 21. Jahrhundert wieder in nationalen Grenzen zu denken, hielt Yildirim für „schwierig“. Sie setzte ihre Hoffnung eher in eine jüngere Generation, die „beseelt“ sei vom europäischen Gedanken.

In den letzten zehn Jahre sei hinsichtlich der Weiterentwicklung der Autonomie Südtirols „zu wenig passiert“, plädierte FPÖ-Mandatar Peter Wurm für einen stärkeren Einsatz Österreichs. Alle parlamentarischen Anträge zur Thematik seien im Wesentlichen „schubladisiert“ worden und bei der Jugend in Gesamt-Tirol wachse die Distanz zur eigenen Geschichte. Es dürfe nicht vergessen werden, dass die Teilung Tirols auch Nord- und Ost-Tirol schwäche. Wurm sprach sich daher für eine Vereinigung aller drei Landesteile aus. Die Entscheidung darüber müsse jedoch bei den Südtiroler:innen selbst liegen.

Hermann Weratschnig von den Grünen hielt fest, dass ein starker Minderheitenschutz auch ein Ausdruck starker Demokratie sei. Er regte an, das Thema der Eigenstaatlichkeit abseits des „alten Nationenbegriffs“ neu zu denken. Erstrebenswert für ihn wäre ein „Europa der Regionen“, da es den Lebensrealitäten der Menschen besser entspreche.

Gerald Loacker (NEOS) stimmte Weratschnig zu und argumentierte, dass nur die europäischen Strukturen Selbstbestimmungsbestrebungen von Minderheiten auf friedlichem Wege ermöglichen würden. Man brauche zu diesem Zweck nicht mit dem „alten Tirol daherkommen“, da der Großteil der Bevölkerung keinen Bezug mehr dazu habe. Loacker plädierte zudem für diplomatisches „Fingerspitzengefühl“ im Umgang mit Italien, da zu viel Druck wiederum Gegendruck erzeuge. (Schluss) wit

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie im Webportal des Parlaments.

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