Strategien für die Stärkung dezentraler Regionen: Expert:innen erörtern Potentiale bei Enquete im Bundesrat
Fraktionen debattieren vielfältige Herausforderungen für den ländlichen Raum
Wien (PK) – Bei der heutigen Enquete des Bundesrates zur Zukunft dezentraler Lebensräume stellten Exper:innen im Rahmen eines Panels ihre Strategien für die Stärkung des ländlichen Raumes vor. So erläuterte der Regionalmanager Markus Lemberger den Weg seiner Heimatgemeinde von der strukturschwachen Grenzregion zur wirtschaftlich dynamischen „Scientific Open Region.“ Sibylle Zech von der TU Wien ging auf das Potential „multilokal“ lebender Personen ein und Brigitte Hütter, Rektorin der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz, referierte über den Stellenwert von Bildung und Forschung für die Entwicklung des ländlichen Raumes. Um wirksame Maßnahmen gegen die Abwanderung und problematische demographische Entwicklungen ging es dem Vizepräsidenten der Wirtschaftskammer Österreich, Matthias Krenn. Im Anschluss folgten die Stellungnahmen der Bundesratsfraktionen.
Lemberger: Gemeinden müssen schneller und weiter denken als Land und Bund
Der Regionalmanager des ostbayrischen Landkreises Cham und Professor für Volkswirtschaftslehre und Regionalmanagement in München Markus Lemberger eröffnete das Panel zu den Strategien für starke dezentrale Regionen mit einer Analyse der Entwicklung seines Landkreises zur „Scientific Open Region“. Einst eine strukturschwache Grenzregion, präsentiere sich Cham heute als ein innovativer und dynamischer Wirtschaftsstandort, in dem Vollbeschäftigung herrsche. Gelungen sei dies mittels Förderung endogener Wachstumspotentiale, insbesondere durch die Stärkung der Bildungslandschaften sowie den Aufbau lokaler Netzwerke und Plattformen. Vor allem jungen Menschen würden so Berufsperspektiven eröffnet und die Möglichkeit gegeben, sich in ihrer Heimat weiterzuentwickeln, was sich bedeutend auf die wirtschaftliche Dynamik des Landkreises Cham niederschlage.
Was „peripher“ bedeute, sei immer auch eine Frage der Einstellung der Menschen zu ihrer Heimatregion, so Lemberger. Ein positives Mindset helfe, die Potentiale des Landes zu erkennen und zu nutzen. Seine Region habe etwa die Chancen der Nähe zu Tschechien vor allem im industriellen Bereich wahrnehmen können und so das verfügbare Einkommen in den letzten Jahren um 50% gesteigert. In Folge konnten aus lokalen Initiativen, wie etwa ein digitales Gründerzentrum, viele neue Unternehmen entstehen. An der Entwicklung von Cham zeige sich, dass es für ländliche Gemeinden wichtig sei, bei den Maßnahmen zur eigenen Entwicklung schneller zu sein als übergeordnete Einheiten wie Bund und Länder. Denn wer auf deren Initiative warte, verspiele wertvolle Chancen zur eigenständigen Weiterentwicklung.
Zech: Potentiale der Multilokalität besser nutzen
Sibylle Zech von der TU Wien unterstrich in ihrem Referat über neue Rahmenbedingungen für die regionale Wirtschaft, dass es nicht um die Gegensätze zwischen zentralem und dezentralem Raum gehe, sondern um Ergänzung und Partnerschaft. Sie widmete sich dem Thema Baukultur, welches sowohl für die Raumentwicklungsstrategie in ländlichen Regionen als auch für die Ökologie von zentraler Bedeutung sei. In den letzten beiden Jahrzehnten sei die Flächeninanspruchnahme für die Errichtung von Gebäuden und Infrastrukturen um rund 26% gestiegen, während die Bevölkerung lediglich um 10% gewachsen sei. Der steigende Flächenverbrauch führe nicht nur zu einer drastischen Veränderung des Erscheinungsbildes der Landschaft, sondern bedeute auch eine zunehmende Versiegelung des Bodens, der so seine biologischen Funktionen dauerhaft verliere, erklärte Zech. Gerade periphere Regionen würden hoffen, über die Widmung neuer Baugrundstücke junge Menschen an sich zu binden, so Zech, diese Rechnung gehe aber selten auf. Auch der lange Zeit bei der Regionalentwicklung im Vordergrund gestandene Ausbau der Verkehrsinfrastruktur führe nicht zum erhofften Erfolg, da schnelle Straßenverbindungen in die Ballungszentren erst recht wieder Menschen und Know-how aus den peripheren Regionen abziehe und umgekehrt Güter und Dienstleistungen aus den Zentren die Angebote in den Regionen konkurrenzieren.
Ein Trend der letzten Jahre berge laut Zech jedoch hohes Potential für die ländlichen Regionen: Multilokalität, das Leben und Arbeiten an mehreren Orten. Politik, Verwaltung und die örtliche Bevölkerung müssten multilokal lebenden Personen, die oftmals emotional an ihre Regionen gebunden sind, als potenzielle Rückkehrende von morgen positiv gegenübertreten, um dieses Potential nutzen zu können. Dies erfordere jedoch einen politischen Perspektivenwechsel hin zum Verständnis des Landes als Innovationsort.
Krenn: Problematischen demographischen Entwicklungen entgegenwirken
Die Stärkung der regionalen Wirtschaftsstandorte stand im Zentrum der Ausführungen von Matthias Krenn, Vizepräsident der Wirtschaftskammer Österreich. Als Bürgermeister einer ländlichen Gemeinde in einer stark von Tourismus, dem Dienstleistungssektor und kleinen landwirtschaftlichen Strukturen geprägten Region beobachte er seit Jahren eine problematische demographische Polarisierung sowie eine generelle Abwanderungstendenz. Der kritischen Bevölkerungsentwicklung, die vor allem durch durchschnittliche Alterung gekennzeichnet sei, müsse massiv entgegengetreten werden, damit sich noch kritischere Prognosen nicht realisieren. Dafür benötige es die Zusammenarbeit aller Sektoren und ein schärferes Bewusstsein für die anstehenden Herausforderungen. In Krenns Heimatgemeinde gründe man daher ein Kompetenzzentrum für Regionalentwicklung.
Handlungsbedarf ortete er in vielen Bereichen, vom ausgedünnten öffentlichen Verkehr bis zum Mangel an leistbarem Wohnraum. Um der Abwanderung entgegenwirken zu können, gelte es an mehreren Schrauben zu drehen. Verbesserungen bei der betrieblichen Gesundheitsförderung, der Kinderbetreuung und der Flexibilität von Arbeitsmodellen könnten hier Abhilfe schaffen. Zudem plädierte Krenn für die Abschaffung des abgestuften Bevölkerungsschlüssels, der zu einer nichtgerechtfertigten Ungleichbehandlung der ländlichen Bevölkerung führe.
Hütter: Bildung und Forschung sind essenziell für die Entwicklung des ländlichen Raumes
Über die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung im diesem Kontext sprach die Rektorin der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz, Brigitte Hütter. In einer wissensbasierten Gesellschaft sei nicht nur das Fortkommen jedes Einzelnen, sondern auch jenes von Gemeinden bis hin zu Staaten von Bildung, Wissenschaft und Forschung abhängig. Diese seien als Standortfaktoren aus der Regionalentwicklung nicht mehr wegzudenken und müssten konsequent in alle Konzepte miteinbezogen werden. Oberösterreich erweise sich dahingehend als Vorzeigeregion, die demonstriere, das jeder in Wissenschaft und Forschung investierte Euro gut angelegt ist. Laut Hütter erhöhe sich durch diese Schwerpunktsetzung die Innovationskraft von Unternehmen sowie Regionen und wichtige Erkenntniseffekte würden auch zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beitragen.
Hütter betonte den ihrer Ansicht nach engen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Prosperität von Regionen und einer hohen Dichte an Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen. Von diesen gingen wesentliche Entwicklungsimpulse aus, die in den regionalen Raum hineinwirkten, da sie im regen Austausch mit der dortigen Wirtschaft und Gesellschaft stünden. Absolvent:innen der Bildungseinrichtungen würden auch oftmals in den Regionen bleiben und sich durch Unternehmensgründungen ihre Berufsfelder selbst schaffen. Institutionen der Bildung, Wissenschaft und Forschung würden die regionale Anbindung mit einer internationalen Ausrichtung zusammenführen und könnten somit auch den ländlichen Raum als Wissensstandort etablieren, erklärte Hütter.
ÖVP sieht österreichische Regionalentwicklung auf einem guten Weg
Peter Raggl (ÖVP/T) unterstrich, dass Veranstaltungen wie diese Enquete unter Teilnahme der Bundesminister:innen eine große Wertschätzung für die Länderkammer darstellten. Die letzten fünf Bundesratspräsidentschaften seien inhaltlich im Zeichen der Chancengleichheit für den ländlichen Raum gestanden und hätten durch verschiedenste Aktivitäten ein stärkeres öffentliches Bewusstsein für dieses Thema geschaffen. Österreich sei, was die Regionalentwicklung betreffe, bereits auf einem guten Weg, wenn man es beispielsweise mit Tschechien vergleiche, wo kaum noch Jugend in den ländlichen Gemeinden vorhanden sei. Raggl richtete sich auch an Verkehrsministerin Leonore Gewessler mit der Bemerkung, dass die Inanspruchnahme von Flächen im Rahmen der Energiewende nicht auf Kosten der Landwirtschaft und damit der Ernährungssouveränität gehen dürfe.
Seine Fraktionskollegin Andrea Eder-Gitschthaler (ÖVP/S) regte an, öffentliche Verwaltungseinrichtungen vermehrt in den Regionen anzusiedeln, um dort Arbeitsplätze zu schaffen und somit die Wirtschaft zu fördern. Ferdinand Tiefnig (ÖVP/O) sprach von der Vorreiterrolle Oberösterreichs bei den Bildungseinrichtungen im ländlichen Raum und betonte, dass dessen Zukunft von Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen abhänge.
Flächendeckende Kinderbetreuung für SPÖ Schlüsselfaktor gegen Abwanderung
Es gehe um die Menschen sowohl in den ländlichen als auch in den urbanen Gebieten und nicht um den Kampf zwischen Stadt und Land, erklärte Korinna Schumann (SPÖ/W). Für alle stehe ein gutes Leben im Zentrum, was passende Arbeitsplätze und -bedingungen sowie gute Bezahlung bedeute. Ein wichtiger Faktor zur Bekämpfung der Abwanderung sei die Situation der Frauen, was die Kinderbetreuung zur wesentlichen Frage mache. Die dementsprechende 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern stelle nicht den „große Wurf“ dar, den es brauchen würde, um hier für eine signifikante Verbesserung der Lage zu sorgen. Damit sei laut Schumann eine große Chance verpasst worden. Zudem gehe es um vielfältige Strukturfragen, wie die Verfügbarkeit von ärztlicher Versorgung und Pflege, Mobilität, Digitalisierung sowie leistbaren Wohnraum.
Auch die aktuelle Teuerung stelle sowohl die Bürger:innen als auch die Gemeinden selbst vor große Herausforderungen, die nach raschen Lösungen verlangen würden. Wichtige Investitionen in die Zukunft der Gemeinden könnten aufgrund fehlender finanzieller Mittel oftmals nicht getätigt werden, ergänzte Bettina Lancaster (SPÖ/O). Stefan Schennach (SPÖ/W) sprach von der Spekulation mit Grund und Boden, die jungen Menschen die Chance nehme, sich eine Existenz im ländlichen Raum aufzubauen.
FPÖ: Überbordende Verwaltung blockiert Entwicklungspotential
Aufgrund der Vielzahl derartiger Veranstaltungen zur Thematik des ländlichen Raumes, auf die keinerlei Handlungen folgten, könne man sich nicht des Eindrucks erwehren, es handle sich dabei um eine Art „Beschäftigungstherapie“, erklärte Josef Ofner (FPÖ/K). Das frühzeitige Verlassen der Enquete durch die Minister:innen zeige auch den Stellenwert dieses Themas für die Politik. Die Gemeinden hätten in der Corona-Pandemie ihre fraktionsübergreifende Handlungsfähigkeit demonstriert, während vom Bund nichts zu erwarten sei. Dieser biete keine Perspektive und würde den Menschen notwendige Maßnahmen etwa bei der Kinderbetreuung vorenthalten.
Die Bürgermeister:innen sähen sich nun mit einer prekären finanziellen Lage und einer überbordenden Verwaltung konfrontiert, die den Gemeinden unnötige Beschränkungen beispielsweise bei der Raumordnung aufbürden würden. Dadurch würden Entwicklungsmöglichkeiten verhindert und die Lebenserhaltungskosten der Bürger:innen blieben hoch, so Ofner. Auch Maßnahmen zur Digitalisierung und Bildungsangebote müssten dem Bund etwas wert sein. Dieser müsse endlich die Herausforderungen der Regionen ernst nehmen und ihnen jenen Stellenwert zubilligen, den sie verdienen.
Grüne wollen spezifische Qualitäten des ländlichen Raumes erhalten
Die gesamte Debatte gehe von einer prinzipiellen Benachteiligung des ländlichen Raumes aus, erklärte Adi Gross (Grüne/V) und drückte sein Unverständnis darüber aus. Das Land sei für viele ein Sehnsuchtsort mit hohen Qualitäten, die es zu erhalten gelte. Beim Thema Mobilität würden die Emotionen besonders hochkochen und der Ruf nach neuen Straßenprojekten ertöne schnell und laut. Doch weitere Schnellstraßen würden die Lebensqualität am Land eher verschlechtern und die Regionen ihrer spezifischen Eigenschaften berauben. Der Fokus müsse hier verstärkt auf den öffentlichen Verkehr gelegt werden. Im ländlichen Raum könne vieles sozialpolitisch besser funktionieren, da man sich kenne und gemeinsam Verantwortung übernehme. Dazu käme ein hohes Potential zur Subsistenzwirtschaft und bessere Möglichkeiten, im Rahmen der Energiewende eigenen Strom zu produzieren. Die Bürger:innen der Gemeinden müssten letztlich selbst entscheiden, was sie wollen und die Politik dürfe ihre Modelle nicht einheitlich über die vielfältigen Situationen im ländlichen Raum stülpen.
Die Auswirkungen der Inflation auf die Regionen sprach Clemens Stammler (Grüne/O) an. Die Qualitätsproduktion der Landwirtschaft habe in den letzten drei Monaten Umsatzeinbußen von bis zu 20% zu verzeichnen. Konsument:innen würden sensibel auf die Teuerung reagieren und nun vermehrt zu günstigeren Produkten greifen, wobei es sich hauptsächlich um Importware handle. Die Wertschöpfung müsse unbedingt in den Regionen gehalten werden, auch um eine klimafreundliche Produktion sicherzustellen, so Stammler. (Schluss Enquete Bundesrat) wit
HINWEIS: Der Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftliche Dienst der Parlamentsdirektion hat zum Thema der Enquete ein Fachdossier erstellt.
Die Enquete wurde live in der Mediathek des Parlaments übertragen und ist dort als Video-on-Demand abrufbar. Fotos finden Sie auf der Website des Parlaments.
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